Arbeitskreis therapeutische Wohngruppen Berlin Therapeutische Jugendwohngruppen Berlin
Arbeitskreis der therapeutischen Jugendwohngruppen Berlin (AK TWG)         20. 4. 2009

Der AK TWG hat im Herbst letzten Jahres eine Stellungnahme zur stationären jugend-psychiatrischen Versorgung für den Landespsychiatriebeirat vorgelegt.
In der hier vorliegenden Stellungnahme zur ambulanten kinder- und jugendpsychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung beziehen wir uns, ohne die Ausführungen zu wiederholen, inhaltlich auf die damaligen Einschätzungen.

  • 1. Die im Sinne gemeinsamer Behandlung/ Betreuung notwendige Zusammenarbeit mit niedergelassenen Jugendpsychiatern und niedergelassenen Psychotherapeuten funktioniert einzelfallbezogen gesehen generell relativ gut. 

Aber:
- Ebenso wie die Klinikambulanzen sind die niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater überbelastet und können zeit- und bedarfsnah nicht genügend Behandlungszeit zur Verfügung stellen.
- Mehr als 40 % der TWG-Klientel wird auch längerfristig mit Psychopharmaka  
behandelt. Um eine gute gemeinsame Behandlung zu gewährleisten, müssen verbindliche Kooperationsformen bzw. Qualitätsstandards zwischen ambulanter Jugendpsychiatrie und Jugendhilfeeinrichtungen entwickelt werden.
- Ob es sinnvoll möglich und praktikabel ist, jugendpsychiatrische Leistungserbringung direkt im Rahmen der TWGs zu verorten und über Kassenfinanzierung abzusichern, sollte weiter diskutiert werden.

  • 2. Die grundsätzliche fachliche und organisatorisch-finanzielle Schwierigkeit der ambulanten Psychotherapie mit Jugendlichen/jungen Erwachsenen ist bekannt.
    Das integrative pädagogisch-therapeutische Behandlungssetting („Therapeutisches Milieu“) der TWGs ist erfahrungsgemäß einer der erfolgreichen Wege, den betreffenden Klienten Psychotherapie nahe zu bringen und längerfristig psychotherapeutisch wirksam zu intervenieren.
  • In der Praxis stellt sich heraus, dass es äußerst schwierig ist, genügend (geeignete) Behandlungsplätze bei niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten für die betreffende (häufig schwer gestörte) Klientel zu finden (… lange Wartezeiten, weite Wege, relative Unzuverlässigkeit der Klienten, hoher Kooperationsaufwand …).
  • In den östlichen Bezirken ist die Versorgungsdichte eindeutig zu niedrig. Dies betrifft sowohl niedergelassenen Jugendpsychotherapeuten und Jugendpsychiater, als auch insbes. psychodynamisch arbeitende Psychotherapeuten.
  • 3. Der Rückgang der Bewilligung der KJHG-finanzierten Psychotherapien in den letzten Jahren hat diese Versorgungssituation für Kinder und Jugendliche insgesamt verschärft. Für Jugendliche in TWGs ist dieser Therapiezugang in den letzten Jahren verschlossen, da die Jugendämter generell keine sog. Doppelfinanzierung (TWG plus KJHG-Therapie) bewilligt haben.
  • 4. Öffentliche und freie gemeinnützige Beratungsstellensind in einzelnen Fällen wichtige Zugangsinstitutionen für Familien/Jugendliche auf dem Weg in eine TWG. Im weiteren Prozess spielen sie nur selten eine bedeutsame Rolle.
  • Im Kontext beginnender psychiatrischer Problematiken bei Kindern/Jugendlichen einer-seits, bei der Begleitung von Kindern/Jugendlichen mit psychiatrischen Erkrankungen bei ihren Eltern andererseits könnten Beratungsstellen in enger Kooperation mit Psychiatrischen Kliniken eine wesentliche Rolle übernehmen (Angehörigengruppen, Elterngruppen, Betroffenen-Selbsthilfegruppen etc.).
  • 5. Aus unserer Sicht gibt es Versorgungsprobleme in Bezug auf folgende Gruppen:
    • Jugendliche mit schweren Persönlichkeitsentwicklungsstörungen
    • psychotische Jugendliche
    • Jugendliche mit Adipositas
    • massiv gewalttätig agierende Jugendliche
    • Jugendliche mit Migrationshintergrund
    • Jugendliche mit Lernbehinderung
  • Zum einen fehlen entsprechend arbeitende/qualifizierte niedergelassene Therapeuten (u.a. mit entsprechendem kulturellem/sprachlichem Hintergrund), interdisziplinäre Behandlungssettings (z.B. bei schweren Traumatisierungen) und explizit gruppenthera-peutische Angebote für Jugendliche. Zum anderen Behandlungsangebote wie z.B. Psychoedukationsgruppen, Skills-Trainingsgruppen, Angehörigen- und Betroffenen-gruppen (s.o.).
  • 6. Der Wechsel der Zuständigkeit der Versorgungs- und Finanzierungssysteme vor allem in der psychiatrischen Versorgung mit Ablauf des 18. Lebensjahres führt zu dysfunktio-nalen Ergebnissen und unnötig komplizierten Verläufen. Aus fachlicher Sicht sollte es bei der betroffenen Klientel (je nach Einzelfall) möglich sein, eine durchgehende Betreuung/ Behandlung unabhängig von dieser formalen Altersgrenze zu organisieren und sicher zu stellen.
  • 7. Die Therapeutischen Wohngruppen stellen für Jugendliche und junge Erwachsene einen wichtigen Teil der komplementären Versorgung dar. Für junge Erwachsene, die ein Angebot nach SGB XII benötigen, ist es schwierig zeitnah geeignete Plätze zu finden.
    Hier sollte es in den Bezirken Vereinbarungen zwischen den Abt. Soziales und Jugend geben, dass Jugendliche mit psychischen Störungen bis zum 21. Lebensjahr in der Verantwortung der Jugendhilfe bleiben (wie z.B. im Bezirk Marzahn-Hellersdorf).
  • 8. In der alltäglichen Praxis wird deutlich, dass es im Bereich der schulischen/berufs-vorbereitenden/berufsbildenden Versorgung der spezifischen Klientel Lücken und Defizite gibt. Nach der Entlassung aus der Klinik-/Tagesklinikschule steht für einen Teil der Jugendlichen keine adäquate schulische/berufsvorbereitende Struktur zur Verfügung. Ein Teil der psychisch beeinträchtigten (Kinder- und) Jugendlichen kann weder im normalen Schulbetrieb noch in den spezifischen Schulprojekten bedarfsentsprechend integriert und gefördert werden.
  • 9. Viele Jugendliche, die nicht mehr schulpflichtig sind, fallen in die Zuständigkeit des JobCenters. Hier fehlen besondere Qualifizierungsmaßnahmen, die die psychischen Einschränkungen berücksichtigen und Berufsorientierung bieten. Besonders prekär ist die Situation für Jugendliche, die zwar Drogen konsumieren, aber in der Lage sind regelmäßig zu arbeiten. Sie sind von berufsvorbereitenden Maßnahmen der Agentur für Arbeit ausgeschlossen.
  • 10. Die Beurteilung tatsächlicher Veränderungen von Symptomen/Problemlagen ist schwierig. Deutlich ist der Eindruck, dass nach einer Phase erheblicher Einsparungen im Jugendhilfebereich die „Schwere“ der Symptomatiken bei TWG-Jugendlichen in der Breite zugenommen hat. Es hat den Anschein, als nähme die Anzahl schwer beziehungsgestörter/ frühgestörter (Kinder- und) Jugendlicher - mit dann im Einzelfall sehr unterschiedlicher Symptomatk - zu.

Ein zentraler Punkt unserer Erfahrungen, auf den wir noch einmal hinweisen möchten, ist die Notwendigkeit der Entwicklung gemeinsamer Behandlungs- und Betreuungskonzepte zwischen Kliniken, niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten und den Therapeutischen Wohngruppen im Rahmen der Jugendhilfe. Viele der in TWGs betreuten/behandelten Jugendlichen und jungen Erwachsenen wechseln (z.T. mehrmals) zwischen den unterschiedlichen Behandlungssettings und/oder werden z.T. über längere Zeiträume parallel in mehreren Teilsystemen betreut und behandelt. Sinnvoll wäre eine kooperative systematische Auswertung/Reflektion von Fallverläufen sowohl auf der Einzelfallebene als auch fallübergreifend.

Die Weiterentwicklung der kooperativen und vernetzten Angebotsstrukturen betrifft damit auch die Frage der gemischten Finanzierung aus den unterschiedlichen Systemen. Die starre Abgrenzung zwischen Jugendhilfe, schulischer Förderung, Sozialhilfe und Kranken-kasse erscheint, wenn man aus fachlich-inhaltlichen Gründen von einer gemeinsamen Behandlung/Betreuung ausgeht und eine durchgehende Betreuungs-/Behandlungskette entwickeln will, nicht sinnvoll.

für den AK TWG

Claus-Peter Rosemeier
(Koralle – therapeutische wohngruppen)